W. St. – Die Staatsanwaltschaften leiteten nach dem 8. Mai 1945 bis Ende des Jahres 2005 in 36.393 Ermittlungsverfahren gegen 172.294 Beschuldigte ein. Von 16.740 Angeklagten wurden 6.656 rechtskräftig verurteilt, davon 16 zum Tode (4 davon vollstreckt), 166 zu lebenslanger Freiheitsstrafe, 6.297 zu zeitlich begrenzter Freiheitsstrafe, 130 zu Geldstrafen und bei 47 wurde von Strafe abgesehen (bzw. unbekannte Strafen). In der Mehrzahl der Fälle wurden die Angeklagten auch bei Tötungsdelikten nicht als Täter mit eigenem Tatvorsatz verurteilt, sondern nur der Beihilfe für schuldig befunden.
Nürnberger Prozesse
Das Internationale Militär-Tribunal (IMT) führte unter dem Vorsitz von Richtern aller vier Siegermächte vom 1. Oktober 1945 bis zum 18. Oktober 1946 den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher (Göring u. a.) durch, in dem zunächst 24 deutsche und österreichische Hauptkriegsverbrecher angeklagt und davon 22 verurteilt wurden. Zwölfmal Todesstrafe (Bormann in Abwesenheit, H. Frank, Frick, Göring, Jodl, Kaltenbrunner, Keitel, Ribbentrop, Rosenberg, Sauckel, Seyß-Inquart, Streicher). dreimal lebenslänglich (Funk, Heß, Raeder) und vier zeitige Strafen (Dönitz, Neurath, Schirach, Speer), drei Freisprüche (Papen, Fritzsche, Schacht). Außer Göring (Giftselbstmord) und Bormann (verschollen) wurden alle zum Tode verurteilten Täter am 16. Oktober 1946 hingerichtet. – Das Militärtribunal erklärte die Organisationen der NSDAP, SS, Gestapo zu kriminellen Vereinigungen, um Täter ohne aufwändige individuelle Schuldnachweise verurteilen zu können. Von einem pauschalen Strafvorwurf ausgenommen wurden die mit rein administrativen Aufgaben befassten Mitglieder von SD und Gestapo sowie niederrangige Funktionäre der NSDAP und der Waffen-SS. Nach dem Hauptprozess gab es in Nürnberg zwölf Folgeprozesse gegen 177 hochrangige Vertreter des Deutschen Reiches, darunter führende Angehörige der Reichsministerien, Gestapo, SS, Wehrmacht, Staatsbeamte der Justiz- und Medizinalverwaltung und Industrielle. Der Historiker und Journalist Friedemann Bedürftig:
„Die Nürnberger Prozesse sind vielfach als Siegerjustiz kritisiert worden, u. a. weil deutsche Richter ausgeschlossen waren, weil Straftatbestände rückwirkend eingeführt wurden (Verbrechen gegen den Frieden u. a.) und weil alliierte Kriegsverbrechen (z. B. Katyn) ausgeklammert blieben. Die erhoffte Vorbildwirkung der Nürnberger Prozesse bei kriegerischen Verwicklungen in der Folgezeit blieb aus: erst für Verbrechen während des seit 1990 in Jugoslawien tobenden Bürgerkriegs wurden wieder Gerichtsverfahren vor einem internationalen Tribunal in Den Haag ein- und durchgeführt.“
Statut Internationaler Militärgerichtshof, 8. August 1945, Artikel 6 (Auszug)
a) Verbrechen gegen den Frieden:
Planen, Vorbereitung und Einleitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge. Abkommen oder Zusicherungen oder Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der Vorgenannten Handlungen.
b) Kriegsverbrechen:
Verletzung der Kriegsgesetze oder Kriegsgebräuche. Solche Verletzungen umfassen, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein, Mord, Misshandlungen oder Deportation zur Sklavenarbeit […], die mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern oder jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwüstung.
c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit:
Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht. Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden ist.
Prozesse in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ)
In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) unterstanden die Verfahren direkt dem sowjetischen Geheimdienst NKDW. Nach offiziellen sowjetischen Angaben wurden rund 122.600 Personen inhaftiert, wozu noch weitere 34.700 mit ausländischer, vorwiegend sowjetischer Nationalität kamen, die als Fremd- oder Zwangsarbeiter in Deutschland waren. Die Gesamtzahl der dort Verurteilten wird auf 45.000 geschätzt, wovon etwa ein Drittel zur Zwangsarbeit deportiert wurde, die meisten der übrigen in Speziallagern festgehalten wurde. Die Zahl der Todesurteile ist unbekannt.
Gesamtzahlen: 806 Todesurteile, wovon 486 vollstreckt wurden
Insgesamt wurden von Gerichten der Siegermächte in Deutschland und anderen Ländern wegen NS-Verbrechen etwa 50.000 bis 60.000 Personen verurteilt. In den drei Westzonen verurteilten alliierte Militärgerichte insgesamt 5.025 deutsche Angeklagte. In 806 Fällen wurden Todesurteile ausgesprochen, von denen 486 vollstreckt wurden.
Freilassungen schon nach wenigen Jahren
Die Folgeprozesse der Siegermächte wurden in Deutschland zunehmend als Siegerjustiz interpretiert. Hochrangige Kirchenvertreter, einflussreiche Parteipolitiker und andere exponierte Persönlichkeiten forderten vehement eine Amnestie für die in Gefängnissen einsitzenden NS-Täter. Wortführer unter den Parlamentariern Westdeutschlands waren die Fraktionen der FDP und der Deutschen Partei. Ende der 1940er-Jahre änderten die westlichen Alliierten wegen des Kalten Krieges ihre Politik gegenüber Deutschland. Die noch in Landsberg einsitzenden verurteilten Täter wurden hingerichtet oder – in der Mehrzahl der Fälle – freigelassen. Im Zusammenhang mit der deutschen Wiederbewaffnung und dem Koreakrieg gab es eine schrittweise Freilassung der Verurteilten, wobei alle zum Tode Verurteilten begnadigt, Prominente wie Flick, Krupp und von Weizsäcker 1950/51 aus der Haft entlassen wurden und für andere die Strafhaft stark verkürzt wurde. Das hatte in Westdeutschland eine gesellschaftliche Signalwirkung. Man hielt die eigentlichen Verbrecher nun für abgeurteilt und weitere Strafverfahren für unangemessen.
Nach Entlassung der letzten Täter aus dem Gefängnis in Landsberg waren nur noch Verurteilte aus dem ersten Nürnberger Prozess in Spandau in Haft, für die es aufgrund des sowjetischen Vetos keine Begnadigung gab. Nach Verbüßung von 20 Jahren Haft wurden Albert Speer und Baldur von Schirach entlassen. Als letzter verbüßte Rudolf Heß eine lebenslängliche Strafe. Nach seinem Tod im Jahr 1987 wurde das Gefängnis von den Alliierten abgerissen. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Nürnberger Prozesse rechtsgültig nie anerkannt.
Mörder im Dritten Reich: Wie ging man danach mit ihnen um?
Als wäre nichts geschehen, als hätten sie nicht kurz zuvor noch sechs Millionen Juden und eine halbe Million Sinti und Roma gemeuchelt und gemordet, als hätten sie nicht die schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte begangen, machten sie nach 1945 in der jungen Bundesrepublik wieder Karriere: Die Mörder des Dritten Reichs. Gedeckt und protegiert wurden sie unter anderem von der deutschen Justiz, welche die Strafen, die von den alliierten Gerichten zuvor verhängt worden waren, herabsetzte, die Anklagen verschleppte und die Mörder freisprach. Lebensläufe wurden schamlos geschönt und gefälscht und die braunen Flecken in der Firmengeschichte getilgt. Die braunen Seilschaften garantierten Karrieren in Wirtschaft, Justiz und Politik.
Am 29. Juni 1961 beschloss der Bonner Bundestag, dass auch alle Angehörigen der ehemaligen SS-Verfügungstruppe, die am 8. Mai 1945 länger als zehn Jahre im Dienste Himmlers und Hitlers standen, versorgungsberechtigt sind. Dieser Beschluss öffnete Tausenden Judenmördern und KZ-Henkern den Weg in den westdeutschen Staatsapparat.
In den Behörden und Ministerien der Republik, die sich nun auch wieder bewaffnete, wurde es schon üblich, dass belastete Beamte von ehedem erneut aufstiegen allen voran Kanzler Adenauers Chefberater und Staatssekretär Hans Globke. Der Jurist, der 1935 die nationalsozialistischen Rassengesetze im Sinne des Regimes kommentiert hatte, blieb 14 Jahre auf seinem Bonner Posten, und die Opposition im Deutschen Bundestag beließ es bei Verbalprotesten. Des Staatssekretärs Vergangenheit sei, rechtfertigte ihn der Regierungschef, schon von den Alliierten minutiös nachgeprüft worden.
Mörder mit Nachkriegskarriere
Das Musterbeispiel einer makellosen Nachkriegskarriere lieferte der ostfriesische Arzt Theodor Werner Scheu, der 1941 als SS-Reitersturmführer bei einer eigenmächtigen Abschreckungsaktion (Scheu) 220 litauische Juden erschießen ließ und auch selbst schoss, 1960 enttarnt werden konnte und vom Schwurgericht Aurich zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt wurde: Dr. Scheu hatte es bis dahin zum Amtsarzt im Nordseebad Borkum und zum Besitzer eines Kindersanatoriums wie des privaten Kinderheims „Möwennest“ gebracht, war Aufsichtsarzt im Städtischen Krankenhaus, Mitglied des Kurbeirats und Vorsitzender des Reitervereins geworden. Ein weiteres Beispiel: Der SS-Hauptsturmführer und KZ-Arzt in den Konzentrationslagern Mauthausen, Natzweiler-Struthof und Sachsenhausen, Dr. Heinz Baunkötter, bis 1945 an Menschenversuchen im KZ-Sachsenhausen beteiligt, konnte nach 1945 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Chemie Grünenthal GmbH, Büro Münster (Conterganfälle), sein Wissen weitergeben. Was daraus wurde hat die Welt zu sehen bekommen.
Auschwitz-Mörder in Rothenburg verhaftet und in Frankfurt verurteilt
Bei einem SS-Mörder in hohem Rang brauchte die bundesdeutsche Justiz nicht tätig zu werden. Richard Hildebrandt, im Rothenburg benachbarten Bad Windsheim ansässig, zeitweise in Schillingsfürst, war Höherer SS- und Polizeiführer u. a. in Danzig tätig, gründete das KZ Stutthof und war für die Ermordung von Polen, Juden und Behinderten sowie als Leiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes für gewaltsame Umsiedlungen verantwortlich. Im 8. Nachfolgeprozess in Nürnberg wurde er zu 15 Jahren Zuchthausstrafe und Auslieferung an Polen verurteilt. Nach einem Prozess wurde er 1952 in Polen gehenkt.
Der nach dem Krieg unerkannt im Kreis Rothenburg lebende Franz Johann Hofmann, der in der Nazi-Zeit als SS-Angehöriger Aufsichtsführer in Konzentrationslagern war, darunter Dachau und Auschwitz, wurde in Rothenburg verhaftet und im Auschwitz-Prozess in Frankfurt wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Er starb 1973 im Zuchthaus Straubing (siehe „Blick nach Windsheim“ und „Franz Johann Hofmann: SS-Mörder von Dachau und Auschwitz in Rothenburg entnazifiziert“ in dieser Online-Dokumentation).
Resümee
Eine historiographische Aufarbeitung der Kriegs- und Humanitätsverbrechen während des Ersten Weltkriegs hat bis heute nicht stattgefunden. Der Unterschied zum Zweiten Weltkrieg ist angesichts der Überfülle der Historiographie zu den NS-Verbrechen augenfällig. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die wissenschaftliche – aber offenbar eben auch die politisch-moralische – Aufarbeitung den zeitlichen Abstand von mindestens einer Generation braucht. Die ersten großen wissenschaftlichen Arbeiten über NS-Verbrechen erschienen, gestützt damals noch in erster Linie auf die Dokumente des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher, in den sechziger Jahren, also mehr als zwanzig Jahre, nachdem die Verbrechen begangen wurden. Im zweiten Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg regierten in Deutschland bereits die Nazis.