Heute wenige Kenntnisse über Nationalsozialismus in Schulen – Es fehlt den Schulamtsbewerbern immer mehr das Wissen über Auschwitz und die NS-Verbrechen

Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, Universität Frankfurt am Main

Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, Universität Frankfurt am Main

Von Wolf Stegemann

Das Wochenmagazin „stern“ brachte unlängst eine Studie heraus, in der zu lesen war, dass in Deutschland jeder Fünfte zwischen 18 und 29 Jahren noch nie etwas von Auschwitz gehört hat. Das sorgte für Aufsehen. Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, Erziehungswissenschaftler und Hochschullehrer an der Goethe-Universität Frankfurt, der Lehramtsstudenten ausbildet, hatte in den vergangenen drei Jahre rund 1.000 Studierenden ihr Wissen über den Nationalsozialismus abgefragt. Thomas Dierkes von der Wochenzeitung „Die Zeit“ sprach mit ihm darüber.

In dem Interview begründet Ortmann seine Erhebungen damit, dass er diese nicht gemacht habe, um Studierende wegen ihres Nichtwissens zu blamieren, sondern im Sinne der Sokrates-Methode Nichtwissen in Wissen zu verwandeln. Ortmeyer: „Die Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden und auch der Begriff Auschwitz sind zwar bekannt, aber fundierte Kenntnisse darüber fehlen.“

Das von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützte Lehr- und Forschungsprojekt an der Frankfurter Uni hatte den Titel „Reflexionen über die NS-Zeit und die NS-Pädagogik als Vorbereitung auf den Lehrberuf“. Darin wurden die Verbrechen der Nazis sowie ihre Ideologie und Pädagogik thematisiert. Die Forschungen wurden „anhand umfangreicher Fragebogenaktionen durchgeführt“. Aus den Fragestellungen hätten 90 Prozent der Befragten, so Ortmeyer, selbst gemerkt, wie wenig sie wussten. Daraus sei bei ihnen ein Interesse erwachsen, „sich genauer mit den Verbrechen des NS-Regimes zu befassen“.

Vielen der Studierenden sei überhaupt nicht klar gewesen, wie groß die jüdischen Gemeinden in den Jahren 1932 und1933 in Deutschland waren. Daher glaubten mehr als 70 Prozent der Befragten, dass es „mehrere Millionen Juden“ in Deutschland gegeben habe (es waren rund 500.000). Die Zahl von sechs Millionen ermordeten Juden bezieht sich auf das von Deutschen besetzte Europa. Das war vielen Lehramtsstudenten nicht bewusst. Dazu Originalton Prof. Ortmeyer: „Das wurde ihnen in der Schule offenbar nicht vermittelt.“

Schüler und Schülerinnen des Berufskolleg Soest in Auschwitz, 2011

Schüler und Schülerinnen des Berufskolleg Soest in Auschwitz, 2011

„Schwarzes Loch“ im Wissen der Studenten

Offensichtlich auch, welche Verbrechen von den Deutschen in den besetzten Gebieten außer der Vernichtung der jüdischen Menschen sonst noch begangen wurden. Das sei im Wissen der Studenten ein „nahezu schwarzes Loch“. Auch zeigt die Studie, dass Studenten kein Wissen über die Unterschiede beispielsweise eines Konzentrationslagers Treblinka und Dachau haben. Dieser Punkt war Benjamin Ortmeyer besonders wichtig, weil im Unterschied der Funktion der Konzentrationslager, um bei diesem Beispiel zu bleiben, sichtbar wird, wie wenig Verstehen und Verständnis für „die Einmaligkeit des staatlich organisierten und industriell durchgeführten Massenmordes an den Sinti und Roma und der jüdischen Bevölkerung“ vorhanden ist aufgebracht werden kann.

Benjamin Ortmeyer betont, dass gerade Lehramtsstudenten grundlegende Kenntnisse über die NS-Zeit haben sollten, um sie an ihre Schüler einmal weitergeben zu können. „Es sollte zur Behandlung der Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft im Pädagogikstudium gehören, sich auch mit der NS-Pädagogik auseinanderzusetzen.“ Dabei, so Ortmeyer, gehe es um die Grundlagen und nicht um geschichtswissenschaftliches Detailwissen.

Unterricht vor Ort in Auschwitz: Schülerinnen aus Voerde. Ein Projekt der Landesstiftung  "Erinnern ermöglichen".

Unterricht vor Ort in Auschwitz: Schülerinnen aus Voerde. Ein Projekt der Landesstiftung “Erinnern ermöglichen”.

Lustloses Geraune der Schüler im Unterricht

Auf das lustlose Geraune von Schülern im Unterricht, wenn das Thema Nationalsozialismus angeschnitten wird: „Nicht schon wieder…“ bemerkt Benjamin Ortmeyer, dass dies auf die von ihm Befragten nicht zutraf. „Sie lobten es ausdrücklich, wenn der Nationalsozialismus intensiv behandelt“ und von „von engagierten Lehrkräften vorgetragen worden war.“ Positiv fanden die Befragten, wenn beispielsweise Überlebende des Holocaust in die Schule kamen und ihre Erlebnisse schilderten. 50 Prozent der Befragten fanden es  inakzeptabel, wenn „das Thema nur dozierend und oberflächlich behandelt worden war“.

Nationalsozialismus im Unterricht

In den offiziellen Lehrplänen für den Unterricht im Fach Geschichte steht der Nationalsozialismus schon seit 1949. Allerdings hatte man ihn in den Schulen ignoriert. Durch den streng chronologisch aufgebauten Geschichtsunterricht hat man es „mit Absicht nicht geschafft“, aus zeitlichen Gründen das Dritte Reich durchzunehmen. Aus eigener Erfahrung kann der Autor berichten, dass in seiner Schule Anfang der 1960er-Jahre nur bis zur Weimarer Republik unterrichtet wurde, danach ging es mit der Gründung der Bundesrepublik unter dem Begriff „Zeitgeschichte“ weiter. Thomas Dierkes, „Zeit“-Redakteur:

„Heute wird der Nationalsozialismus nach Lehrplan gleich zweimal durchgenommen – einmal in der zehnten Klasse und einmal in der Oberstufe. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es eine breite Bewegung des ,forschenden Lernens’ an historischen Stätten und Beteiligung an Wettbewerben. Derartige Projekte gibt es heute nur noch vereinzelt.“

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Prof. Dr. Benjamin Ortmeyer, geboren 1952 in Kiel, lehrt als außerplanmäßiger Professor im Fachbereich Erziehungswissenschaften in Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich wissenschaftlich hauptsächlich mit der Pädagogik in der Zeit des Nationalsozialismus. Seine Broschüre „Argumente gegen das Deutschlandlied“ führte zu einer heftigen Auseinandersetzung um die Nationalhymne. Mit seiner Habilitationsschrift „Mythos und Pathos statt Logos und Ethos“ entfachte Ortmeyer eine Diskussion über die Verstrickung des Pädagogen Peter Petersen in nationalsozialistische Rassenideologie und über die Umbenennung von Schulen und Straßen, die nach ihm benannt sind.

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Quelle: Nach „Nahezu ein schwarzes Loch“ in DIE ZEIT vom 23. Februar 2012
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